Der lange Marsch

Adrett gekleidet, mit weißem Hemd, dunkler Hose und blauem Schlips, schreitet Martin Sauerbrei durch das Hotelfoyer. Sein Blick ist unauffällig, streift die Hotelgäste, wandert zum Empfang, grüßt freundlich ankommende und gehende Gäste, ein kurzes Gespräch mit einem Kollegen hier, ein freundliches Nicken da. Der 31-Jährige ist in seinem Element. „Ich mag den Kontakt mit den Menschen“, sagt Martin Sauerbrei. Und genau deshalb hat er sich für eine Ausbildung als Hotelfachmann entschieden. Das Vienna House Andel’s Berlin ist sein Ausbildungsbetrieb und Arbeitgeber. Der Schwesternbetrieb Vienna House Easy Berlin – die 3-Sterne-Marke des Unternehmens, gleich auf der anderen Straßenseite des Andel’s – ist sein derzeitiger Wirkungspunkt.

Der Weg war ein langer Marsch und schon gar nicht direkt.

Als Martin Sauerbrei 2006 sein Abitur ablegt, steht fest: Chinastudien an der Freien Universität Berlin sind seine erste Wahl. Als Schüler hatte er bereits eine Bildungsreise nach Peking mitgemacht und dort ein Bildungsprojekt kennengelernt, das Kinder aus unterentwickelten Regionen Chinas unterstützte, damit sie zur Schule gehen können. Zurück in Berlin sammelt Martin Sauerbrei Spendengelder für diese Kinder, lernt parallel auf der Volkshochschule Chinesisch und unternimmt seine nächste Reise, um am „Langen Marsch für Bildung“ teilzunehmen. Er marschiert mit anderen durch chinesische Dörfer und die Provinz Yunnan, um die Kinder und die Schulen zu sehen, für die die Spendengelder gedacht sind. „China war nicht Liebe auf den ersten Blick“, aber Land und Leute haben ihn sehr für sich eingenommen und den Studienwunsch zementiert. „Ich wollte etwas für die Völkerverständigung tun“.

Martin Sauerbrei büffelt Schriftzeichen und Vokabular, vertieft sich in Kultur, Länderkunde und Wirtschaft, schreibt Hausarbeit um Hausarbeit. Ein Austauschstudienjahr in China, bei dem er seine Sprachkenntnisse verbessern kann, hilft auch. Doch was nach seinem Studium kommen soll, ist nebulös. Versuche, über Stiftungen den Weg in die Wissenschaft zu nehmen, sind glücklos. Gezielte Recherchen auf dem Arbeitsmarkt frustrieren ihn, denn „immer wurden Praxiskenntnisse erwartet, die ich nicht vorweisen konnte“, sagt er. Die Motivation, die nächste Hausarbeit über China zu verfassen, hängt am seidenen Faden. „Es war irgendwann frustrierend, weil ich genau wusste, dass ich eine tolle Arbeit schreibe, die aber irgendwo in der Uni einstaubt.“

Parallel versucht Martin Sauerbrei Praxiserfahrungen zu sammeln, will Dinge probieren, die ihn für den Arbeitsmarkt qualifizieren. Schließlich will er nicht klein beigeben. Eine Kita ist dabei, für Ärzte ohne Grenzen versucht er sich als Fundraiser, bei Andel’s Vienna House bewirbt er sich als Mitarbeiter im Frühstücksservice. Das bringt die Wendung. „Hier habe ich mich sofort wohlgefühlt. Das Team hat gestimmt und die Kollegen haben einen sehr freundlichen und kompetenten Eindruck auf mich gemacht.“ Einige Zeit vergeht, aber dann steht fest: Martin Sauerbrei und das Hotelgewerbe passen zusammen. Er beendet nach fast neun Jahren seine Chinastudien ohne Abschluss – und ohne Reue. Er erhält einen Ausbildungsvertrag als Hotelfachmann.

Das bedeutet natürlich Schichtarbeit, vom Restaurant bis zur Küche, vom Housekeeping bis zum Empfang alles zu durchlaufen, Handgriffe und Abläufe beim Eindecken, Abräumen, Putzen, Umgang mit der Wäsche oder der Zimmerreservierung genau zu kennen und selbst gemacht zu haben. Zu verstehen, wie eins ins andere greift und dass es die Gäste sind, um die es geht. „Als Hotelfachmann sollte man vieles können. Aber vor allem Organisation und Interaktion mit den Gästen sind sehr wichtig.“

Freundliche Umgangsformen, Geduld, Nervenstärke sind Voraussetzungen, die Martin Sauerbrei erfüllt. Inzwischen kann er ohne Scheu auf Menschen zugehen. „Das Überraschendste ist für mich selber, dass ich mich immer als schüchtern und nachdenklich eingeschätzt habe. Das Nachdenkliche ist geblieben, aber die Schüchternheit ist komplett weg“, sagt er stolz. Für seine persönliche Entwicklung sei das eine Bereicherung, die er sich nicht zugetraut hätte. Da passt auch die Funktion als Azubi-Sprecher, die er ernst nimmt. „Als älterer Azubi trage ich Verantwortung für die Jüngeren, muss sie einerseits mitnehmen, aber andererseits auch immer mehr fordern“, sagt der zukünftige Hotelfachmann, sich seiner Aufgabe sehr bewusst.

Personalreferentin Amanda Zerban bestätigt, dass Martin Sauerbrei „in seinem Metier angekommen“ sei. „Er ist fokussiert, engagiert sich, ist kreativ.“ Für die jüngeren Azubis hat er ein Schreibcafé eingeführt, das ihnen beim Schreiben der Hausarbeiten hilft. „Das Menschliche ist das entscheidende in der Gastronomie.“ Dass er seine Ausbildung schon nach zweieinhalb Jahren abschließt, davon ist sie fest überzeugt.

Vergessen die Zeiten, in denen er zauderte. Im Nachhinein ist ihm bewusst geworden, dass ihm beim Studium „die Teamarbeit gefehlt hat. Das ist hier komplett anders. Man muss wirklich Hand in Hand arbeiten, um Aufwand und Anforderungen zu schaffen.“

Der Studienausstieg gehört zu den Erfahrungen des Lebens.

„Versagt zu haben, das Gefühl habe ich gar nicht erst aufkommen lassen“, sagt er. Seine Eltern wusste er immer hinter sich. „Sie waren froh und sind glücklich, dass ich mich so entschieden habe, weil sie sehen, dass ich hier mein Potenzial ausleben kann, dass meine Arbeit wertgeschätzt wird, was ich an der Uni nicht hatte.“

Insbesondere Gäste aus China gehören nun zu den Glücklichen im Vienna House Andel’s und im Vienna House Easy Berlin, vor allem, wenn sie bemerken, dass Martin Sauerbrei ihnen fast alles in ihrer Muttersprache erklären kann. Der lange Marsch hat sich gelohnt. Schließlich hat er noch ein Ziel vor Augen: Dabei sein bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking. Olympioniken oder sportbegeisterte Gäste hätten in Martin Sauerbrei dann ihren  China- und Hotelexperten in einem.

Fotos: Anna Weise
Text: Ina Krauß

Dieser Erfahrungsbericht ist im Rahmen des Projekts „Queraufstieg Berlin“ entstanden. Das Projekt wurde von 2016 bis 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als „Leuchtturmprojekte Studienabbruch“ im Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung zur Initiative „Bildungsketten“ gefördert.