Mit Klarheit und Riesenschritten zum nächsten Ziel

Wenn Charlotte Große Sudhoff mit großen Schritten durch die riesige Lagerhalle in Berlin-Schönefeld läuft und an meterlangen Regalen Waren kontrolliert oder kommissioniert, dann geht ihr manchmal durch den Kopf, dass diese Arbeit bei einem der größten Logistikunternehmen Deutschlands nicht ihr Plan A war. Studieren wollte sie.

“Es gab Sachen, die mir Spaß gemacht haben. Aber ich wusste nicht, ob ich das mein ganzes Leben lang machen möchte oder mir das vorstellen könnte.”

So wie Charlotte Große Sudhoff geht es vielen jungen Menschen, wenn sie vor der Berufsentscheidung oder Studienwahl stehen. “Bei mir hätten sie mit dem Hobby zu tun gehabt.” Charlotte konnte ihre Visionen immerhin mit der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) verbinden, bei der sie aktiv war. “Ich habe dann durch den Schwimmunterricht relativ schnell gemerkt, dass ich doch nicht Richtung Lehramt möchte.”

Die Spandauerin sucht Rat bei der Arbeitsagentur und macht sich schlau auf Portalen für Studierende, macht diverse Tests. Ihre Testergebnisse zeigen alle in die gleiche Richtung: BWL und VWL. Sie lässt sich auch an der Potsdamer Uni beraten, welche Jobs nach dem Studium kommen könnten und will es probieren. Sie entscheidet sich für VWL. Wir schreiben das Jahr 2015, sie hat ihr Abitur gerade in der Tasche und pendelt zwischen ihrem Wohnort Spandau und der Uni Potsdam. Doch bald kommt die Ernüchterung. Im zweiten Semester wird ihr klar, dass “die tiefer führenden Kurse in VWL Bereiche berührt hatten, die mich nicht so interessiert haben.”

In Statistik hatte sie sich bereits durch das erste Modul durchgearbeitet, aber bei Statistik II ist sie mental komplett ausgestiegen. Dabei hatte sie die Lust am Studium noch nicht verloren und festgestellt, dass ihr die Kurse, die sie mit den BWL-Studierenden zusammen hatte, wirklich Freude machten. Marketing ist interessant, auch die Verknüpfungen mit politischen Fragestellungen sind anregend für sie. “Ich bin richtig gerne zu Vorlesungen gegangen, die wurden auch vom Professor toll umgesetzt”, sagt Charlotte. “Ich habe da wirklich mitdiskutiert, mich an Vorlesungen beteiligt.” Es sind die Momente, in denen sie gerne und hochmotiviert zur Uni gegangen ist. “Bedauerlich, wenn es nicht das eigene Studienfach ist.” Ein Wechsel von der VWL zur BWL ist jedoch nicht möglich. “Aber entscheidend war, sich einzugestehen, dass man bei dem Studium nicht richtig aufgehoben ist.” Und die Konsequenz daraus zu ziehen: Sie wird ihr Studium abbrechen. Nun kommt der Familienrat. “Beichten”, sagt Charlotte.

“Meine Eltern haben natürlich keine Luftsprünge gemacht, aber die Begründung schon verstanden.”

Ihre beiden älteren Geschwister hatten es längst erkannt und Charlotte dabei auch den Rücken gestärkt. Nur an zündenden Ideen, welche Ausbildung passend sein könnte, hapert es. “Wir kamen immer nur auf Standardausbildungen wie Bankkauffrau oder Versicherungskauffrau, aber das sollte es auf keinen Fall sein”, sagt Große Sudhoff.

Und nun kommt eine Freundin ins Spiel, die ihr die Empfehlung gibt, eine Ausbildung als Kauffrau für Spedition und Logistikdienstleistung zu absolvieren. “Das könnte voll Deins sein, probiere es doch”, hat Charlotte noch heute im Ohr. Ein Beruf in der drittgrößten Branche, abwechslungsreich und viel komplexer, als nur Waren von A nach B zu transportieren. Die Freundin hatte diese Ausbildung selber durchlaufen und auch gleich ein paar Empfehlungen für Ausbildungsbetriebe parat. “Dachser war auch darunter.” Sie bewirbt sich und es klappt.
Zwei Ausbildungsjahre hat sie bereits hinter sich und ist zufrieden.

“Ich lerne konkret, direkt am praktischen Beispiel und kann viel besser Verknüpfungen zwischen Theorie und Praxis ziehen.”

“Auch wenn Theorie und Praxis manchmal etwas auseinanderklaffen”, schiebt die inzwischen 24-Jährige schmunzelnd hinterher. See- und Luftfracht, Straßen- und Schienentransport, Beschaffungslogistik, Buchführung und seit neuestem auch E-Mobilität gehören zu den großen Themen, mit denen sie sich intensiv beschäftigt. Unlängst stand Seefracht auf dem Lehrplan. “Da gibt es viel zu bedenken: Wie wickelt man den Transport ab? Wie sind Haftungsfragen geregelt?” Auch Zollregularien muss sie kennen. “Das alles zu wissen und im Arbeitsleben umsetzen zu können, das finde ich spannend, das macht wirklich Spaß. Und da hängt man sich auch wirklich rein.”
Zusätzlich absolviert sie noch eine zweite Ausbildung zur Kauffrau für internationale Geschäftstätigkeit bei Dachser. Wenn andere schon Freizeit haben, lernt sie noch alles rund um internationale Kaufverträge, internationales Kaufrecht und auch kulturelle Kompetenzen, “weil es mich interessiert, und weil ich ein Auslandspraktikum absolvieren darf”. Der drohende Brexit verhindert zwar, dass sie ihr Praktikum 2020 in London absolviert, aber dafür freut sie sich schon auf Madrid. Und verbessert sicher nicht nur ihr Spanisch.
Spanisch kommt ihr nichts vor in dieser Branche. Selbst am vermeintlich rauen Ton, der manchmal aufflackert, stört sie sich nicht. “Ich weiß, dass es niemand böse meint, wenn die Stimme mal lauter wird. Unterm Strich geht es darum, dass der Ablauf funktioniert, es wird nicht lange drum herum geredet, sondern klar gesagt, was gemacht werden muss. Persönlich finde ich das angenehm.”

Charlotte Große Sudhoff schätzt Klarheit. Mit der sie mittlerweile auch über den Studienabbruch denkt, der für sie damals eine Hürde war. “Wenn man schon darüber nachdenkt, ob das Studium zu einem passt oder nicht, dann läuft etwas schief.” Es sei nicht schlimm und nicht peinlich, ein Studium abzubrechen. Reden hilft, weil manchmal die anderen auf Ideen kämen, auf die man selber nie kommen würde.
“Auch wenn es eine Überwindung ist, der Schritt lohnt sich.”
Und so schreitet sie mit Riesenschritten zu ihrem nächsten Ziel: “Eine gute Position, Geld verdienen, Verantwortung, vielleicht irgendwann doch noch ein Studium.” Das ist dann aber sicher mehr als Plan B.

Fotos: Anna Weise
Text: Ina Krauß

Dieser Erfahrungsbericht ist im Rahmen des Projekts „Queraufstieg Berlin“ entstanden. Das Projekt wurde von 2016 bis 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als „Leuchtturmprojekte Studienabbruch“ im Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung zur Initiative „Bildungsketten“ gefördert.